Kleidungsreste und Knochenteile
Poonal vom 10.04.2025 | |
Gerardo Magallón | |
übersetzt von: Deborah Schmiedel |
(Mexiko-Stadt, 21. März 2025, desinformémonos).- Vom Gipfel des Cerro Guerrero aus sieht man die beleuchteten Jacaranda-Bäume, den Kabelbus und eine Umgehungsstraße, die den Norden von Mexiko-Stadt modernisiert hat. Es gibt einige halb vertrocknete Sträucher mit kleinen gelben Blüten, die wie Schwämme aussehen, und bereits verblühte Nopales, aber die Szenerie ist düster: denn hier graben drei Familien in einer Müllhalde auf der Suche nach den Überresten ihrer Söhne und Brüder.
Ángel Gerardo Ramírez, Jesús Armando Reyes und Leonel Báez verließen am 29. November 2019 ihre Arbeit in der Kaufhauskette Sanborns an der Plaza Lindavista und gingen ein Bier trinken. Seitdem wurde niemals wieder etwas von ihnen gehört. Heute suchen ihre Angehörigen auf dem Hügel, auf dem ihr Handysignal zuletzt aufgezeichnet wurde, nach Spuren ihrer Überreste.
Dieser Suchtag ist ein bisschen wie ein Schulausflug: Die Anwesenden gehen die Liste derjenigen durch, die ihre Ankunft bestätigt haben, und jemand fragt, ob sie ein »Brötchen für den Weg« haben. Sie sind Teil des Kollektivs »Hasta encontrarles« in Mexiko-Stadt und anderer Solidaritätsgruppen. Yolzin ist auf der Suche nach ihrer Schwester, die in einem anderen Zusammenhang verschwunden ist, aber sie hat sich diesmal angeschlossen, weil sie weiß, dass die Verschwundenen alle etwas angehen. Sie überlegt laut, wie der Tag aussehen wird, und beeilt sich, ihre Haare zu langen Zöpfen zu binden, damit ihre »Haare nicht auf dem Boden schleifen, während wir suchen«.
Bis zu 6.000 Verschwundene allein in Mexiko-Stadt
Nach Angaben des Registers der Verschwundenen und Vermissten des mexikanischen Innenministeriums (SEGOB) gibt es in Mexiko 127.000 Fälle (Stand April 2025), von denen 1.200 auf die Hauptstadt des Landes entfallen; verschiedene soziale Organisationen wie Red Lupa weisen allerdings darauf hin, dass es mehr als 6.000 sein könnten. Der Stadtteil Gustavo A. Madero verzeichnet die drittmeisten Fällen von Verschwundenen, an erster Stelle steht der Stadtteil Iztapalapa, gefolgt von Cuauhtémoc.
Die Arbeitstage besteht darin, Löcher mit einem Durchmesser von 1,5 Metern auszuheben, bis man auf festen Boden stößt, eine Aufgabe, die hauptsächlich von Feuerwehrleuten und Mitarbeiter*innen der Staatsanwaltschaft ausgeführt wird. Die ausgehobene Erde wird in eine Reihe von Sieben geschüttet, wo die Angehörigen und Expert*innen nach Knochenresten suchen.
Die humanitäre Brigade Marabunta hat diesmal ihre roten T-Shirts zu Hause gelassen, die sie kennzeichnet, wenn sie Gewalt bei Demonstrationen einzudämmen versucht. Heute tragen sie hellbraune Hemden, die den Schmutz verbergen, der über sie ausgeschüttet wird, wenn sie in den Müllgruben kratzen und Kleidung und Schuhe herausziehen, die ein Hinweis sein könnten. Die faktische Auflösung der Nationalen Suchkommission und das kürzliche Verschwinden von Beweisen in Rancho Izaguirre in Jalisco sind Zeichen dafür, dass es offizielle Politik ist, die humanitäre Krise in Mexiko zu leugnen. Für die suchenden Familien scheint die Zeit stillzustehen: »Alles, was wir vor dem Verschwinden waren, ist ruiniert… die Arbeit fällt schwer, die Schule steht an, es fehlt an Geld«, sagt Carlos Ramírez Chaufón, Gerardos Bruder.
Politik leugnet humanitäre Krise in Mexiko
María Volante und ihr Sohn, el Güero, organisieren eigentlich einen anderen Suchtag auf dem Berg Ajusco. Diesmal für Pamela Gallardo, die 2017 nach einem Konzertbesuch spurlos verschwand. Aber sie haben sich die Zeit genommen, sich dieser Brigade auf der anderen Seite der Stadt anzuschließen.
Als eine Ausgrabung den tiefsten Punkt erreicht, werden die Familien gerufen, um zu zeigen, dass es nicht noch mehr Erde auszugraben gibt. Diesmal ist es Carlos, der in die Tiefen des Mülls hinabsteigt, um sicherzustellen, dass es keine Hinweise auf seinen Bruder Ángel Gerardo gibt.
Während einer Suchpause, in der Wasser getrunken und etwas Obst gegessen wird, beginnen sie, über einen Plan zu sprechen, der ein Geheimnis zu sein scheint.
Der Fall der Sanborns-Angestellten hat keine Fortschritte gemacht. Im Laufe des Jahres 2024 wurden fünf mögliche Verdächtige verhaftet, aber diese haben die Aussage verweigert und jede Anhörung wurde ohne ersichtlichen Grund verschoben.
Ein Suchtag ohne Ergebnis
Nach fast vier Stunden türmen sich Kleidungsstücke und Knochenteile, die nach Meinung der Gerichtsmediziner*innen jedoch alle tierischen Ursprungs sind. Ein Tag ohne konkrete Ergebnisse.
Die suchenden Familien bedanken sich bei den Mitarbeiter*innen der Behörden und den sie begleitenden Solidaritätsgruppen, und sie stimmen den Plan für den nächsten Tag ab: wer kauft den Kuchen für den Geburtstag einer Mitsuchenden, den sie essen werden, bevor sie den nächsten Suchtag beginnen. Denn sie wurden eines Sohnes, eines Bruders, aber nicht der Hoffnung beraubt.
Quelle: poonal
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